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Juvis – Videokonferenz.sicher.verlässlich

Es ist der 06. Februrar 2037, 9 Uhr, ich komme in mein Büro, hole mein Tablet aus der Tasche und entfalte es auf meinem Schreibtisch. Heute ist mein Office-Tag. Verhandlungen stehen an. Trotz Juvis tue ich das immer noch gerne im Gerichtsgebäude. Auf den Bürger und auch auf mich macht das wesentlich mehr Eindruck, als unpersönlich über die Justiz-Video-Sitzungs-App, kurz Juvis, zu verhandeln. Von den unfreiwillig komischen Abkürzungen für Anwendungen, die immer noch aussehen als stammten sie aus den 10er Jahren dieses Jahrtausends, kann sich die Justizverwaltung eben nicht trennen.

Als ich vor 21 Jahren als Richter begann, gab es in Strafsachen noch „Mega“, was für „Mehrländergerichtsakte“ stand. Nicht in eine Reihe mit Influencern oder anderen Multiplikatoren gehörte – obwohl es so klang – der „web.sta“. „web.sta“ war vielmehr die damalige Aktenverwaltungssoftware der Staatsanwaltschaften und hatte damit wohl noch den progressivsten Namen. „Eureka“ rundete zusammen mit „ForumStar“ die früheren Justizverwaltungsprogramme ab. Den Preis für den sperrigsten Namen hatte definitiv „Eureka“ verdient, dass ausgeschrieben für „EDV-Unterstützung für Rechtsgeschäftsstellen und Kanzleien sowie der Richter- und Rechtspflegerarbeitsplätze“ stand.

Justiz auf einen Blick

Bevor ich mich also auf in die Sitzung mache, werfe ich noch eben einen Blick in meinen digitalen Aktenbock. Das ist eine kleine Übersicht in meinem Justizprofil, welches mir aktuelle Änderungen in den laufenden Verfahren im Überblick anzeigt. Damit hatte ich auf dem Weg zum Gericht schon begonnen. Seit die Justiz nämlich vor 7 Jahren auf eine echte elektronische Akte umgestiegen ist, hat sich alles verändert. Verfahren werden nicht mehr per Papier zu Gericht gebracht. Die Anwälte haben vielmehr einen elektronischen Zugang (auch Account genannt) zu einer Art Gerichtsforum. Mit Foren kannte man sich zu Beginn der 2000er Jahre schon gut aus. Jeder nutzte sie zu allem Möglichen und Unmöglichen.

Die Funktionsweise ist daher auch leicht beschrieben: Der Rechtsanwalt, der eine neue Klage erheben will, eröffnet auf der Seite des Gerichts über seinen Account ein neues Thema (auch Thread genannt). Der erste „Beitrag“ zu diesem Thema ist das, was vorher die Klageschrift war. Er enthält Anträge und den Sachverhalt.

Rechtsgeschichte zur E-Akte

Zu Beginn hatte man noch versucht, den Anwälten sogenannte Masken zur Verfügung zu stellen. Damit sind Formulare gemeint, in denen die Anwälte den Vortrag nach Normen und Tatbeständen getrennt eingeben konnten. Es sollte erreicht werden, dass die Gerichte schon einen strukturierten Parteivortrag erhielten. Dieses System hat sich aber schnell als unpraktikabel erwiesen. Einerseits nahm die Regelungswut des Gesetzgebers zu, statt ab, so dass die vierteljährlichen Updates des Systems schlicht immer zu langsam waren. Zur Regelungswut hinzu kamen die stets neuen „ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale“, welche die Rechtsprechung in vielen Normen ausmachte. Andererseits war das Recht ohnehin viel zu verzweigt, als das man sinnvolle Masken hätte integrieren können.
Ich erinnere mich an ein Verfahren, in dem ein Anwalt die Anwendbarkeit nahezu jeder Norm in Frage stellte. Eine Maske für die „Anwendbarkeit der Norm“ enthielten jedoch nur untergesetzliche Normen und vereinzelte gesetzliche Vorschriften, wie beispielsweise die Anfechtungstatbestände des BGB, wenn man zuvor ebenfalls die Maske für die Stellvertretung auswählte. Er musste es also umständlich in die Maske „Sonstiges“ eintragen, was alles viel unübersichtlicher gemacht hatte.

E-Akte für alle

Das vom Anwalt erstellte Thema wird dann von einem Mitarbeiter (dem Moderator) des Gerichts freigeschaltet und bekommt ein gutes altmodisches Aktenzeichen. Der Anwalt erhält eine Benachrichtigung in seinem Justizaccount über eine Änderung in seinem Thema. Unter seinem ersten Beitrag sieht er einen neuer Beitrag des Gerichts, welcher ihn zur Zahlung des Gerichtskostenvorschusses auffordert. Sofern der Anwalt selbst schon einen vorläufigen Streitwert angab, einen Vorschuss einzahlte und der Moderator das nach kurzer Prüfung freigab, erhält er erst wieder eine Nachricht nach erfolgter Zustellung. Zur Zahlung kann sich der Anwalt aller gängigen Zahlungsmethoden bedienen. PeachPay wird aber, soweit ich weiß, nicht mehr unterstützt. Nachdem die Fingerabdruckdatenbank und auch die Gesichtsdatenbank zum wiederholten Male gehakt wurden und Peach daraufhin wegen des Kursverlustes und des ohnehin schleppenden Verkaufs des PeachPhone L von Imoaix gekauft wurde, entschied man sich, auf PeachPay aus Sicherheitsgründen zu verzichten.

Nach Bezahlung des Gerichtskostenvorschusses wird ein Kurzlink erstellt und entweder elektronisch an den passivrubrizierten Anwalt versandt oder tatsächlich altmodisch ausgedruckt und an den betroffenen Bürger per Post zugestellt. Der kann dann entweder zu Gericht gehen und dort sowohl Einsicht in das Thema nehmen und erwidern, als auch einen temporären Account mit seinem elektronischen Personalausweis erstellen lassen. Alternativ kann er selbst einen Rechtsanwalt mit der Vertretung beauftragen, der dann wiederum über seinen Justizaccount und dem Kurzlink Zugriff auf das Thema nimmt. Dort kann er dann, wie in einem Forum üblich, auf die Klage erwidern. Tut er das, erhält der Klägervertreter wiederum eine Benachrichtigung.

Eine befreundete Anwältin hat mir das mal von der anderen Seite gezeigt. Sie hatte sich das Ganze so eingerichtet, dass sie eine Benachrichtigung auf ihr Smartphone bekam und Erwiderungsfristen automatisch in ihrem Kalender eingetragen wurden. Die Fristen dienen dabei heutzutage weniger dazu jeweils abwechselnd den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, sondern vielmehr die Zeit festzulegen, die das Gericht mit Terminierungen oder Entscheidungen zuwartet. Da jeder Beteiligte Zugang zu dem Thema im Justizforum hat, erübrigen sich auch Zustellungen oder Übersendungen. Jeder kann jederzeit Beiträge verfassen und den gesamten Verlauf des Verfahrens verfolgen. Beiträge des Richters werden dabei zur leichteren Auffindbarkeit hervorgehoben. Auch die Einbindung von Videos oder Fotos ist kein Problem. Schließen die Parteien über das Gerichtsforum einen Vergleich, ist dieser vollstreckbar. Weitere Quality of Life Funktionen erleichterten den Justizalltag. Enthielt der Vergleich oder das Urteil beispielsweise einen Zahlungstenor, konnte die Gegenseite diesen anklicken und wurde sofort zu einem Bezahldienst weitergeleitet. Auch Ratenzahlungen konnten so mit einem Klick eingerichtet werden. Das System hat dann vollautomatisch die Erfüllung überwacht.

Ausreichende Sicherheit

Zu Beginn gab es noch Sicherheitsbedenken. Da aber der Zugang per echter Ende-zu-Ende (EE2E) Verschlüsselung erfolgt, ist für ausreichend Sicherheit in allen üblichen Verfahren gesorgt. Für besonders sensible Verfahren (ein solches muss der Anwalt bereits mit der Klageerhebung kennzeichnen) müssen die Rechtsanwälte zusätzlich einen VPN Zugang nutzen. Strafverteidiger kommunizieren nur auf diesem Weg. Ferner ist nach wie vor „Akteneinsicht“ in besondere Beweismittel, bspw. in Kinderpornografie-Fällen, weiterhin nur auf dem Gericht über einen Gerichtscomputer möglich, der nicht an das Internet angeschlossen ist, soviel Zeit muss sein. Immerhin werden auch Wahlen der Transparenz wegen noch mit Stift und Papier abgehalten.

Wie hältst dus mit der Freiheit?

1 O 3/37, neue Klage, Parteien laut erstem Beitrag: Sophia Hünfeld ./. Christian-Thomasius-Universität, wegen Unterlassung und Schmerzensgeld, Streitwert 25.000 €. Der Name der Klägerin kommt mir irgendwie bekannt vor, aber bevor ich mir weitere Gedanken dazu machen oder die Anträge lesen kann, muss ich auch schon in die Sitzung, es ist 9.27 Uhr. Die Justizapp verrät mir, dass die Anwälte gerade das Gebäude betreten haben …

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